Deutschland 1918‑1939
Juli‑Dezember 1919
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Beschluß, Kongreß der freien Gewerkschaften, 30. Juni bis 5. Juli 1919[1] |
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Der 10. Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands erklärt, daß die Gewerkschaften die Arbeitnehmer unbeschadet der politischen oder religiösen Überzeugung des einzelnen zu einheitlicher und geschlossener Aktion zwecks Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen Interessen vereinigen müssen. Das Mannheimer Abkommen mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom Jahre 1906, das eine Verständigung der beiden Zentralleitungen bei wichtigen, die Gesamtinteressen der Arbeiterklasse betreffenden Fragen verlangt, hatte den Zweck, diese Aktionskraft der Arbeiterschaft durch Vermeidung von Differenzen zwischen gewerkschaftlicher und politischer Arbeiterbewegung zu erhöhen. Die politische Neutralität der Gewerkschaften gegenüber ihren Mitgliedern wurde davon nicht berührt. Aber dieses Abkommen hatte eine einheitliche politische Interessenvertretung der deutschen Arbeiter zur Voraussetzung. Diese Voraussetzung ist nicht mehr vorhanden. Die Spaltung der Sozialdemokratischen Partei gefährdet auch die Einheit und Geschlossenheit der deutschen Gewerkschaften. Der Gewerkschaftskongreß sieht sich daher genötigt, die Neutralität der Gewerkschaften gegenüber den politischen Parteien auszusprechen. Die politischen Meinungskämpfe der Arbeiter dürfen die Stoßkraft ihrer wirtschaftlichen Interessenvertretung, der Gewerkschaften, nicht schwächen. Die Gewerkschaften dürfen sich jedoch nicht auf die enge, berufliche Interessenvertretung ihrer Mitglieder beschränken, sie müssen vielmehr zum Brennpunkt der Klassenbestrebungen des Proletariats werden, um den Kampf für den Sozialismus zum Siege führen zu helfen. |
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Beschluß, Kongreß der freien Gewerkschaften, 30. Juni bis 5. Juli 1919[2] |
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Richtlinien für die künftige Wirksamkeit der Gewerkschaften 1. Die Gewerkschaften haben in der Periode der privatkapitalistischen Warenproduktion die Arbeiter zum Klassenkampf erzogen. Sie haben große Massen der Arbeiter in starken Verbänden gegen die Unternehmer vereinigt, sie in Lohn- kämpfen geschult und durch wirtschaftliche Bildung zur Erkenntnis ihrer Lage und zum Verständnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge gebracht. Die Gewerkschaften haben in jahrzehntelangem, systematischem Kampf den Unternehmern nicht nur Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen abgerungen, sondern auch die Stellung der Arbeitnehmer in den von den Gewerkschaften beeinflußten Betrieben der Arbeitgeberwillkür entzogen. Sie haben der Arbeiterschaft die Anerkennung ihrer Organisation als gleichberechtigten Vertragsteil erkämpft und in beträchtlichem Umfange die gewerkschaftlichen Erfolge durch kollektive Arbeitsverträge sichergestellt. Sie haben ferner die Umwandlung des Arbeitsrechts, vordem ein einseitiges Herrenrecht des Unternehmers, zum paritätischen Recht angebahnt und gefördert sowie auf die Sozialpolitik und die Gesetzgebung einen steigenden Einfluß ausgeübt. 2. Am Vorabend der politischen Revolution hatten die Gewerkschaften die Unternehmer bereits zur Erfüllung der wesentlichsten Arbeiterforderungen gezwungen und sie auf den Weg der wirtschaftlichen Demokratie gedrängt durch Schaffung von Arbeitsgemeinschaften, in denen alle Fragen des Wirtschaftslebens und der Sozialpolitik in gleichberechtigter Vertretung von Unternehmern und Arbeitern gelöst werden sollen. Alle diese Erfolge der Gewerkschaften sind wertvolle Errungenschaften, haben aber die berechtigten Forderungen der Arbeiterschaft und somit die Aufgaben der Gewerkschaften erst zum Teil erfüllt. Der Kampf der Gewerkschaften muß deshalb fortgesetzt werden. 3. Die Revolution hat die politische Macht der Arbeiterklasse gestärkt und damit zugleich ihren Einfluß auf die Gestaltung der Volkswirtschaft vergrößert. Der Wiederaufbau des durch den Krieg zerrütteten Wirtschaftslebens wird sich in der Richtung der Gemeinwirtschaft, unter fortschreitendem Abbau der Privatwirtschaft vollziehen. Die Umwandlung muß planmäßig betrieben werden und wird von den Gewerkschaften gefördert. 4. Die Gewerkschaften erblicken im Sozialismus gegenüber der kapitalistischen Wirtschaft die höhere Form der volkswirtschaftlichen Organisation. Die von ihnen erstrebte Betriebsdemokratie und Umwandlung der Einzelarbeitsverträge in Kollektivverträge sind wichtige Vorarbeiten für die Sozialisierung. Die weitere Mitarbeit der Gewerkschaften auf diesem Gebiet ist unentbehrlich. 5. Die Gewerkschaften haben auch in der Gemeinwirtschaft und selbst in völlig sozialisierten Betrieben die Interessen der Arbeitnehmer gegenüber Betriebsleitung, Gemeinde und Staat zu vertreten. Sie sind deshalb auch im Zeitalter des Sozialismus notwendig. Die soziale Fürsorge der Gesellschaft macht die gegenseitige Hilfe der Arbeiter in ihren Organisationen nicht entbehrlich. Die Gewerkschaften fordern von der Gesellschaft eine ausreichende Fürsorge für die Bedürftigen, insbesondere für die Erwerbsunfähigen, Erwerbsbeschränkten und ohne eigenes Verschulden Erwerbslosen. In dem Maße der Verwirklichung und Sicherung dieser öffentlichen Fürsorge können die gewerkschaftlichen Unterstützungseinrichtungen abgebaut werden. 6. Die Interessengegensätze zwischen Betriebsleitungen und Arbeitnehmern werden auch in der Gemeinwirtschaft nicht völlig beseitigt werden können. Selbst wenn Arbeitseinstellungen infolge des sozialen Arbeitsrechts und demokratischer Mitverwaltung der Arbeitnehmer eingeschränkt werden können und im Interesse der sozialistischen Volkswirtschaft durch schiedsgerichtliches Verfahren nach Möglichkeit verhütet werden müssen, können die Arbeitnehmer auf das Streikrecht nicht verzichten. 7. Das Mitbestimmungsrecht der Arbeiter muß bei der gesamten Produktion, vom Einzelbetrieb beginnend bis in die höchsten Spitzen der zentralen Wirtschaftsorganisation, verwirklicht werden. Innerhalb der Betriebe sind frei gewählte Arbeitervertretungen (Betriebsräte) zu schaffen, die, im Einvernehmen mit den Gewerkschaften und auf deren Macht gestützt, in Gemeinschaft mit der Betriebsleitung die Betriebsdemokratie durchzuführen haben. Die Grundlage der Betriebsdemokratie ist der kollektive Arbeitsvertrag mit gesetzlicher Rechtsgültigkeit. Die Aufgaben der Betriebsräte im einzelnen, ihre Pflichten und Rechte, sind in den Kollektivverträgen auf Grund gesetzlicher Mindestbestimmungen festzulegen. 8. Die Durchführung der in diesen Richtlinien aufgestellten Forderungen ist Aufgabe der gewerkschaftlichen Zentralorganisationen in den einzelnen Industrie- und Berufszweigen, die sich im Deutschen Gewerkschaftsbund zu einer Gesamtvertretung der Arbeit vereinigt haben. Den zum Deutschen Gewerkschaftsbund gehörigen Gewerkschaften kann jeder Arbeiter und jede Arbeiterin beitreten. Politische oder religiöse Überzeugung ist in diesen Organisationen kein Hinderungsgrund für den Beitritt. 9. In den Gemeindebezirken oder größeren Wirtschaftsgebieten übernehmen die aus Urwahlen mit beruflicher Gliederung hervorgehenden Arbeiterräte neben den innerhalb der allgemeinen Wirtschaftsorganisation ihnen gesetzlich zugewiesenen Pflichten und Rechten auch die sozialen und kommunalpolitischen Aufgaben der seitherigen örtlichen Gewerkschaftskartelle. An Stelle der letzteren treten Ortsausschüsse des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, die ihre Tätigkeit auf die rein gewerkschaftlichen Aufgaben beschränken und daneben die Verbindung der Gewerkschaften mit den Arbeiterräten herstellen. 10. Außer diesen örtlichen Arbeiterräten sind Arbeitervertretungen für größere Bezirke und für das Reich auf Grund von Urwahlen nach dem Verhältniswahlsystem zu berufen. Dieselben können mit entsprechend zusammengesetzten Vertretungen der Betriebsleiter gemeinsam sozialpolitische und wirtschaftspolitische Angelegenheiten als Selbstverwaltungsorgane der Volkswirtschaft (Wirtschaftskammern) behandeln, Gesetzentwürfe ausarbeiten und begutachten sowie Vorschriften für die Organisation der Betriebe und Wirtschaftszweige zu deren Sozialisierung ausarbeiten und auf ihre Durchführung hinwirken. 11. Die Gewerkschaften können nach ihrem Charakter als Vertretung reiner Arbeiterinteressen nicht selber Träger der Produktion sein, als welche die Wirtschaftskammern zu gelten haben. Ihnen fällt aber die Führung einer zielbewußten Arbeiterpolitik innerhalb der Wirtschaftskammern zu. Sie haben grundsätzliche und praktische Richtlinien für die Arbeitervertreter aufzustellen und für dauernde Verbindung dieser Vertreter untereinander und mit den Gewerkschaften Sorge zu tragen. Sie müssen umfassende Maßnahmen treffen, um die Erkenntnis aller volkswirtschaftlichen Fragen und Produktionsbedingungen, der Technik und Betriebsverwaltung in der Arbeiterschaft zu verbreiten und damit bei dieser die Kräfte auslösen, die zur Durchführung der sozialistischen Wirtschaftsweise nötig sind. |
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6. Juli |
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Frankfurt am Main, Erklärung der Vertrauensleute des DEV auf der Vollversammlung der Streikenden [3]: In Erwägung, daß der Zentralvorstand des DEV die bindende Erklärung abgegeben hat, daß rasch eine Urabstimmung der gesamten Mitgliedschaft herbeigeführt werden soll, zur Entscheidung über die Einheitsaktion wegen Verwirklichung der bekannten Forderungen, gegebenenfalls auch durch den Streik aller Staatsbahner, in weiterer Erwägung, daß die Frankfurter Eisenbahner diese Entschließung des Zentralvorstandes als Erfolg ihres Streiks buchen können, endlich in Erwägung, daß eine durch den Teilstreik herbeigeführte Störung des Wirtschaftslebens nicht zu rechtfertigen ist, wenn die Herbeiführung der Einheitsaktion nahe ist, beschließen die Vertrauensleute: Der Mitgliederversammlung wird der Abbruch des Streiks empfohlen; die Forderungen werden aufrechterhalten, besonders das Verlangen nach dem Rätesystem als innere Betriebseinrichtung; und die gesamte Kollegenschaft wird aufgefordert, für die Einheitsaktion sich bereit zu halten. Der Öffentlichkeit erklären die Vertrauensleute, und die Mitgliederversammlung bekräftigt die Erklärung: Dem Ministerium der öffentlichen Arbeiten wurden am Donnerstag, dem 3. Juli, die Forderungen der Eisenbahner, die wirtschaftlicher, nicht politischer Art sind, durch Vermittlung der Eisenbahndirektion von der Streikleitung telegraphisch übermittelt Die Streikleitung erklärte gleichzeitig ihre Bereitwilligkeit, in Unterhandlungen einzutreten. Bis heute Sonntag, den 6. Juli, ist eine Antwort nicht erfolgt. Das Schweigen des Ministers, das dem Verhalten der Unternehmerschaft alten Schlages gleicht, kennzeichnen wir der Öffentlichkeit als volksschädlich. Jene Zeitungen, die gegen die Streikenden unberechtigte Angriffe gerichtet haben, die wir zurückweisen, darunter auch die Frankfurter »Volksstimme«, machen wir auf diese Haltung des Ministers aufmerksam. Weiter erheben die Streikenden schärfsten Einspruch gegen die Haltung einzelner Beamten, die nicht nur der Bewegung sich entgegenstemmten, sondern durch bestimmte Handlungen und Reden, besonders in der Versammlung vom 4. Juli, eine bösartige Hetze betrieben haben. Im Hinblick darauf, daß der Beamtenbund annähernd die gleichen Forderungen wie die Streikenden aufgestellt hat, kennzeichnet sich die Haltung dieser Außenseiter als unehrlich. Feierlich sprechen die Streikenden ihren Entschluß aus, daß der Streikabbruch nur ein Waffenstillstand sein wird, falls das Ministerium nicht ehrlich zu einer Verständigung die Hand bietet. Ein neuer Streik wird den gesamten Staatsbahnbetrieb erfassen. Die Streikenden erklären zum Schluß: Jeden Versuch und jede Maßnahme der Verwaltung, die am Streik beteiligten Arbeiter, Hilfsbeamten und Beamten zu maßregeln, das heißt, von ihren Dienststellen ohne ihre Einwilligung, oder ohne die Einwilligung der Arbeiterausschüsse zu versetzen, sie zu entlassen oder sonst irgendwie zu schädigen, werden wir mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln zurückweisen. Wir warnen auch die öffentliche Gewalt, aus Anlaß von Streikhandlungen irgendwelche Strafmaßnahmen einzuleiten. Wir fordern die Kollegen auf, treu zur Organisation, nämlich zu dem jetzt mehr als 400 000 Mitglieder und darunter an 80 000 Beamten zählenden DEV zu halten, und fernerhin für den Gedanken der Einheitsaktion mit allen Kräften zu wirken. Nur die Einheitsorganisation ist imstande, unseren gerechten Forderungen zum Siege zu verhelfen. |
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Verfassung des Deutschen Reichs, 11. August 1919 (Auszüge)[4] |
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Artikel 48 (1) Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten. (2) Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen. (3) Von allen gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen. (4) Bei Gefahr im Verzuge kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen der in Abs. 2 bezeichneten Art treffen. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstags außer Kraft zu setzen. (5) Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz. [...] Artikel 114 (1) Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Eine Beeinträchtigung oder Entziehung der persönlichen Freiheit durch die öffentliche Gewalt ist nur auf Grund von Gesetzen zulässig. (2) Personen, denen die Freiheit entzogen wird, sind spätestens am darauffolgenden Tage in Kenntnis zu setzen, von welcher Behörde und aus welchen Gründen die Entziehung der Freiheit angeordnet worden ist; unverzüglich soll ihnen Gelegenheit gegeben werden, Einwendungen gegen ihre Freiheitsentziehung vorzubringen. Artikel 115 (1) Die Wohnung jedes Deutschen ist für ihn eine Freistätte und unverletzlich. Ausnahmen sind nur auf Grund von Gesetzen zulässig. [...] Artikel 117 (1) Das Briefgeheimnis sowie das Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis sind unverletzlich. Ausnahmen können nur durch Reichsgesetz zugelassen werden. Artikel 118 (1) Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht. (2) Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig. [...] Artikel 123 (1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder besondere Erlaubnis friedlich und unbewaffnet zu versammeln. (2) Versammlungen unter freiem Himmel können durch Reichsgesetz anmeldepflichtig gemacht und bei unmittelbarer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verboten werden. Artikel 124 (1) Alle Deutschen haben das Recht, zu Zwecken, die den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, Vereine oder Gesellschaften zu bilden. Dies Recht kann nicht durch Vorbeugungsmaßregeln beschränkt werden. Für religiöse Vereine und Gesellschaften gelten dieselben Bestimmungen. (2) Der Erwerb der Rechtsfähigkeit steht jedem Verein gemäß den Vorschriften des bürgerlichen Rechts frei. Er darf einem Vereine nicht aus dem Grunde versagt werden, daß er einen politischen, sozialpolitischen oder religiösen Zweck verfolgt. [...] Artikel 153 (1) Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet. Sein Inhalt und seine Schranken ergeben sich aus den Gesetzen. (2) Eine Enteignung kann nur zum Wohle der Allgemeinheit und auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen werden. Sie erfolgt gegen angemessene Entschädigung, soweit nicht ein Reichsgesetz etwas anderes bestimmt. Wegen der Höhe der Entschädigung ist im Streitfalle der Rechtsweg bei den ordentlichen Gerichten offen zu halten, soweit Reichsgesetze nichts anderes bestimmen. Enteignung durch das Reich gegenüber Ländern, Gemeinden und gemeinnützigen Verbänden kann nur gegen Entschädigung erfolgen. (3) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste. |
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26. August |
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Oskar Rusch [5]: Wir könnten es aber im gegenwärtigen Augenblick mit unserem Gewissen nicht vereinbaren, in Anbetracht des zurzeit zerrütteten deutschen Wirtschaftslebens den Kampf aufzunehmen. |
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Oktober |
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Saarland, französische Militärverwaltung, 11. Oktober[6]: Die entstandenen Unruhen haben die Militärverwaltung veranlaßt, die strengsten Maßnahmen zu ergreifen: 1. Jede Person, die im Besitz geraubter Gegenstände ist, wird verhaftet und vor das Kriegsgericht gestellt. 2. Derjenige, der im Besitz eines Stahlstockes, Schlagrings, Dolchs, Knickers oder eines Revolvers angetroffen wird, wird vor das Kriegsgericht gestellt. 3. Jeder Plünderer, der mit Waffen in der Hand überrascht wird und sich weigert sich zu ergeben, wird erschossen. 4. Jede Ansammlung von Leuten wird zerstreut. Jede Ansammlung, die im Vorbeiziehen von Truppen sich feindlich benimmt, wird zerstreut. 5. Jede Person, die einer Militärperson irgendeines Grades keinen Platz macht, wird verhaftet. 6. Jeder Angestellte oder Beamte, der eine Dienstmütze oder Armbinde trägt und einen Offizier nicht grüßt, wird festgenommen und seine Personalität festgestellt. Eine große Anzahl Plünderer sind schon verhaftet worden. Eine Menge gestohlener Waren ist wieder beigebracht worden. Sie sind auf den Büros des Militärverwalters in Ottweiler und Neunkirchen zur Verfügung der Eigentümer. |
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Technische Nothilfe |
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Verordnung, 2 février 1920 [7]: I Die Technische Nothilfe ist eine Arbeitsgemeinschaft namentlich technisch vorgebildeter Arbeitskräfte, die sich bereit erklärt hat, zur Sicherung der inneren Ruhe und Ordnung und des Wiederaufbaues des deutschen Wirtschaftslebens Notstandsarbeiten dort zu verrichten, wo es sich um die Aufrechterhaltung gefährdeter lebenswichtiger Betriebe handelt, sowie in Fällen der Not durch höhere Gewalt z. B. Feuer- und Wassernot, Eisenbahnunglücken usw. einzugreifen. Als lebenswichtige Betriebe sind namentlich anzusehen: Gas-, Wasser-, Elektrizitätswerke, Eisenbahn-, Post, Telegraphenwerkstätten, Hüttenbetriebe, Bergwerke, Landwirtschaft, Zuckerfabriken, Brennereien, Mühlen, Schlachthäuser, Erzeugungsstätten künstlichen Düngers. Zur Förderung dieser Aufgabe wird die Einrichtung von Musterwerkstätten angestrebt. II. Die Technische Nothilfe untersteht dem Reichsministerium des Innern, dem ein aus Vertretern der anderen hauptsächlich beteiligten Reichsministerien gebildetes Direktorium zur Seite steht. [...] Max Riedel, August 1920][8]: Wir sehen hier eine neue Seite der Bedeutung der Technischen Nothilfe. Sie ist nicht bloß volkswirtschaftlich, sondern unter dem hier aufgezeigten Gesichtspunkt auch staatspolitisch eine Notwendigkeit: den Staat vor dem “Griff an die Gurgel” zu schützen, das ist nicht Streikbruch, sondern das ist eine staatsbürgerliche Pflicht. Deshalb muß die Technische Nothilfe zur Sache des Volkes werden, wenigstens des von der Notwendigkeit eines geordneten Staatswesens überzeugten Volkes. |
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Gustav Noske, 9. Oktober 1919[9] |
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Gegen neuen Bürgerkrieg und Bürgerkampf glaubt die Regierung im Interesse des Landes und des deutschen Volkes Maßnahmen treffen zu müssen. Solche Maßnahmen sind außerordentlich unangenehm und an sich unerfreulich. Die Lage unseres Landes aber macht gebieterisch Sicherungsmaßregeln erforderlich, wenn wir nicht unser Land und unser Volk einer Katastrophe entgegentreiben lassen wollen. |
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17 octobre |
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Berlin, G. Noske [10]: Sowie die Maschinisten und Heizer die Arbeit in den lebensnotwendigen Betrieben aufnehmen, fällt meine Verfügung vom heutigen Tage fort. Zur gleichen Zeit wird die Nothilfe zurückgezogen. |
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G. Noske, 17. Oktober (Auszüge)[11] |
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Infolge der Treibereien, die wir mit wachsendem Ingrimm in den letzten Tagen beobachten müssen, ist bewirkt worden, daß jetzt vier Elektrizitätswerke stillgelegt werden, die ich mit der Nothilfe wieder in Gang zu bringen bemüht bin. Vor ganz kurzer Frist ist mir gemeldet worden, daß auch das große Kraftwerk bei Bitterfeld [Golpa-Zschornewitz] lahmgelegt worden ist, [...]. Ich habe Anordnung getroffen, daß Hunderte von Nothilfsleuten in das Gebiet geschickt werden. Weiter haben die Behörden dafür Sorge getragen, daß die erforderliche militärische Sicherung des Bezirks garantiert wird, und weiter habe ich darauf gedrängt, daß zur Durchführung dieser Maßregeln über diesen Bezirk der Belagerungszustand verhängt wird. [...] Endlich habe ich verfügt - und das wird heute abend der Berliner Bevölkerung bekannt gemacht werden -, daß wer von jetzt ab durch Wort, Schrift oder Tat weiter den Versuch macht, lebenswichtige Betriebe stillzulegen, mit Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft wird. Ich werde aber nicht dabei stehen bleiben, sondern jeder einzelne, der den Versuch macht, in Berlin auf die Lahmlegung dieser Betriebe hinzuwirken, wird von mir mit größter Beschleunigung hinter Schloß und Riegel gebracht werden. |
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19. Oktober |
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Berlin, Abkommen zwischen Heizer- und Maschinistenverband und Arbeitgebern [12]: Es wird für die Zukunft festgestellt, daß bei Streiks die Arbeiter nur die Arbeit niederlegen bzw. den Betrieb verlassen, nicht dagegen irgendwelche über ihren Pflichtkreis hinausgehende Eingriffe in den Betrieb vornehmen. |
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Verordnung G. Noske, Groß-Berlin, Gefängnisstrafe für [13] jede wirtschaftliche Bedrohung oder Schädigung (Boykott) der Angehörigen der technischen Nothilfe und ihrer Familienmitglieder, sowie die Aufforderung und Anreizung zum Boykott und Verbot öffentliche schriftliche Beschimpfung oder Bedrohung der technischen Nothilfe in der Presse, in Flugblättern und Broschüren. 23. Oktober, Generalleutnant Oskar von Watter, Industriegebiet Rheinland-Westfalen, Verordnung [14]: Im Einverständnis mit dem Reichskommissar Severing verbiete ich auf Grund des § 9 b des Gesetzes über den Belagerungszustand für die unter dem Belagerungszustand stehenden Gebiete jede wirtschaftliche Bedrohung oder Schädigung der Angehörigen der technischen Nothilfe und ihrer Familienmitglieder sowie die Aufforderung und Anreizung zum Boykott. Ferner verbiete ich die öffentliche schriftliche Beschimpfung oder Bedrohung der technischen Nothilfe in der Presse, in Flugblättern und Broschüren. |
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20. Oktober |
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Metallindustrie, Berlin, G. Noske, Befehl [15]. [...] Es kann einem Zweifel wohl nicht mehr unterliegen, daß der Metallarbeiterstreik zu einer großen Streik- und im weiteren Verlauf zu einer Umsturzbewegung führen sollte. Das Hereinhetzen gerade der lebenswichtigen Betriebe in Sympathiestreiks, vor allen Dingen der Versuch, die Verkehrsmittel (Eisenbahn, Schiffahrt, Straßenbahn) lahmzulegen, sprechen eine deutliche Sprache. Dazu kommt, daß auch aus dem Ruhrkohlen-Revier bedrohliche Meldungen vorliegen, die auf einen erneuten großen Streik hinweisen. Es handelt sich also ganz augenscheinlich um eine umfassende Aktion, die Staatsmaschine durch allmählich sich ausbreitende Streiks zum Stillstand zu bringen. Demgegenüber hilft nur rücksichtslose Anwendung der Staatsgewalt. Wenn die Radikalen für dieses Mal die Bewegung abblasen sollten, so würde das einzig und allein den energischen Gegenmaßnahmen zu verdanken sein. Als wirksamstes Mittel erweist sich nach wie vor scharfes Eingreifen. Daneben hat sich die technische Nothilfe als ein ganz vortreffliches Gegenmittel gegen den Streikterror bewährt. Im übrigen ergibt sich aus dieser großen Bewegung genau dasselbe Bild, wie bei den vielen kleinen Gewaltakten. Hinter dem großen Geschrei manchmal höchst anrüchiger Führer steckt wenig. Sowie fest zugepackt wird, zerflattert der Spuk in alle Winde. Es kann daher allen militärischen, polizeilichen und Verwaltungsbehörden nicht oft genug eingeschärft werden, daß jedes Nachgeben gegen unberechtigtes Verhalten vom Übel ist und unweigerlich weitere noch radikalere Forderungen zur Folge hat. Sehen die Führer, daß sie auf entschlossenen Widerstand der Staatsgewalt stoßen, so verlieren sie sehr bald den Mut und - den großen Mund. Außerdem wird durch ein sofortiges scharfes Zufassen gleich im Anfang der Bewegung erfahrungsgemäß der ganzen Bevölkerung viel Blut und Ungemach erspart. Für die militärischen Stellen gilt in diesem Zusammenhang noch ganz besonders der Grundsatz, daß die zahlenmäßige Schwäche eines Truppenaufgebots durch entsprechend schärfere Maßnahmen am besten ausgeglichen werden kann. Aus dem Vorhergesagten ergibt sich für die Reichswehrgruppenkommandos eine doppelte Aufgabe. 1. Vorbereitung aller für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung notwendigen Maßnahmen, insonderheit der zur Sicherung und Inbetriebhaltung aller lebenswichtigen Betriebe und Verkehrsmittel. 2. Schärfstes Durchgreifen bei Streikterror und allen sonstigen Unruhen. Ich brauche daher nicht besonders zu betonen, daß ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten mit den Zivilbehörden geboten ist und mit allen Mitteln angestrebt werden muß. |
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4. November |
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Versammlung der Arbeiterräte, Betriebsräte und Betriebsdelegierten, Ermächtigung für den Vollzugsrat von Groß-Berlin [16]: An die Berliner Arbeiterschaft! Die Jahrestage der deutschen Revolution werden gewaltsam laut. Die letzten Reste Eurer damals erkämpften Rechte sollen Euch gerade in diesen erinnerungsträchtigen Tagen entrissen werden. Der große wirtschaftliche Kampf der Metallarbeiter wächst sich zu einem Machtkampf zwischen Kapital und Arbeit aus. Euer letzter Einfluß, den Ihr in den Betrieben noch behalten habt, soll Euch entrissen werden. Euer bißchen Bewegungsfreiheit in den Werkstätten und Betrieben will man wieder einengen. Ihr sollt ins Sklavenjoch zurück, unter dem Drucke von Antreibern zu aussaugenden Höchstleistungen angespornt werden. Den Profitjägern will man Euch hemmungslos opfern. Die Metallarbeiter haben, trotz des siebenwöchigen entbehrungsreichen Kampfes, es mit einer überwältigenden Mehrheit abgelehnt, den Nacken unter das Joch zu beugen! Wie ein Mann stehen die zweihunderttausend zusammen! Sie wollen ihren letzten Einfluß in den Betrieben nicht preisgeben, auch nicht um finanzieller Zugeständnisse halber. Die sozialrevolutionären Parteien, die USPD und KPD, unterstützen den jetzt politisch gewordenen Kampf. Die Führer der Rechtssozialisten verweigern die Hilfe, obwohl es nach ihren eigenen Worten nur um das bescheidenste Mitbestimmungsrecht geht. Die Vollversammlung der Arbeiter- und Betriebsräte Groß-Berlins hat mit noch nie dagewesenem Massenbesuch einstimmig ihrem Vollzugsrat die Vollmacht erteilt, den Aufruf zu einem allgemeinen Generalstreik für das ganze Groß-Berliner Wirtschaftsgebiet ergehen zu lassen. |
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6. November |
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Verordnung, G. Noske, Berlin [17]: [Der Vollzugsrat ist eine] unmittelbar drohende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. [...] Jegliche weitere Tätigkeit, welcher Art und welchen Inhalts sie sei, wird hiermit verboten. Zuwiderhandlungen gegen dieses Verbot werden mit Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft, sofern nach den bestehenden Gesetzen eine höhere Strafe nicht verwirkt ist. |
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[1]. http://library.fes.de/gmh/main/pdf-files/gmh/1972/1972-10-a-617.pdf.
IML beim ZK der SED (Hg.): Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung - Reihe 2 - Band 7 - Halbband 1 - Februar 1919‑Dezember 1921, S. 112 (Bibliographie ►).
[2]. http://library.fes.de/gmh/main/pdf-files/gmh/1972/1972-10-a-617.pdf.
IML beim ZK der SED (Hg.): Dokumente und Materialien... - Reihe 2 - Band 7 - Halbband 1, S. 113 (Bibliographie ►)
[3]. J. Pákh (Hg.): Frankfurter Arbeiterbewegung in Dokumenten 1832‑1933 - Band 2, S. 933 (Bibliographie ►)
[4]. http://www.verfassungen.de/de/de19-33/verf19.htm
http://mjp.univ-perp.fr/constit/de1919.htm
[6]. http://www.hvsn.de/index2.php?option=com_content&do_pdf=1&id=109.
[7]. A. Wirsching: Vom Weltkrieg..., S. 116-. (Bibliographie ►)
A. Linhardt: Feuerwehr..., S. 614 (Bibliographie ►)
[9]. A. Wirsching: Vom Weltkrieg..., p. 118. (Bibliographie ►)
Verhandlungen der Verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung - Stenographische Berichte - Band 330, S. 2954 (Bibliographie ►)
[15]. http://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0000/bau/bau1p/kap1_2/kap2_97/para3_1.html.
G. J. Eliasberg: Der Ruhrkrieg 1920, S. 20 (Bibliographie ►)
A. Linhardt: Feuerwehr..., S. 116 (Bibliographie ►)
H. Hürten: Zwischen Revolution..., S. 248 (Bibliographie ►)