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Fakten & Daten  >  Deutschland 1918‑1939

 

 

 

Sozialdemokratische Partei Deutschlands (Sopade)
"Prager Manifest"
30. Januar 1934

 

 

Quelle[1]:

Neuer Vorwärts. Sozialdemokratisches Wochenblatt, Karlsbad, 1934, Nr. 33, 28. Januar, S. 1‑2

Abgedruckt in:

Ursula Langkau‑Alex
Deutsche Volksfront 1932‑1939: zwischen Berlin, Paris, Prag und Moskau - Band 3: Dokumente zur Geschichte des Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront
Berlin, Akademie Verlag, 2005 (S. 47‑56)

 

 

 

 

 

 

 

Erstellt: Januar 2013

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Deutschland 1918 1939 ‑ Dokumente
Deutschland 1918 1939 ‑ Übersicht

 

 

 

 

 

 

Kampf und Ziel des revolutionären Sozialismus.
Die Politik der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

Ein Jahr lang lastet die nationalsozialistische Diktatur über Deutschland, über der Welt. Grundstürzend hat der Sieg der deutschen Gegenrevolution das Wesen und die Aufgaben der deutschen Arbeiterbewegung geändert. Der Knechtschaft und Gesetzlosigkeit preisgegeben ist das Volk im totalen faschistischen Staat. Im revolutionären Kampf die Knechtschaft durch das Recht der Freiheit, die Gesetzlosigkeit durch die Ordnung des Sozialismus zu überwinden, ist die Aufgabe der deutschen Arbeiterbewegung.

I. Die Bedingungen des revolutionären Kampfes.

Im Kampf gegen die nationalsozialistische Diktatur gibt es kein Kompromiß, ist für Reformismus und Legalität keine Stätte. Die sozialdemokratische Taktik ist allein bestimmt durch das Ziel der Eroberung der Staatsmacht, ihrer Festigung und Behauptung zur Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft. Die Taktik bedient sich zum Sturz der Diktatur aller diesem Zweck dienenden Mittel. Der revolutionäre Kampf erfordert die revolutionäre Organisation. Die alte Form, der alte Apparat ist nicht mehr, und Versuche zu seiner Wiederbelebung entsprechen nicht den neuen Kampfbedingungen. Neue Organisationsformen mit opferbereiten Kämpfern müssen entstehen. In der Wahl dieser Formen sind wir nicht frei. Noch legt uns der Gegner durch die Uebermacht seiner Mittel, durch die Brutalität ihrer Anwendung, noch legt uns der Zustand der deutschen Gesellschaft selbst, die unter dem furchtbarsten Druck des ökonomischen, physischen und geistigen Terrors steht, das Gesetz des Handelns auf. Kleine Gruppen bilden sich, sie müssen in teuer erkauften Erfahrungen die Technik ihrer Arbeit erwerben eine Elite von Revolutionären.

Wenn die Gegensätze im Inneren des Faschismus, wenn sich die stets sich verschärfenden Klassengegensätze im Kapitalismus sich entfalten, wenn Unzufriedenheit und Enttäuschung die Massengrundlage der nationalsozialistischen Herrschaft erschüttern, und spontane Massenbewegungen beginnen, dann wird es zur Aufgabe der revolutionären Elite, die Gegensätze im Bewußtsein der Massen zu lenken, ihre Zielsetzung zu beeinflussen, die Verbindungen auszudehnen und die revolutionäre revolutionären Organisation zur Massenorganisation zu erweitern.

In den Dienst der revolutionären Organisation hat sich von Anfang an die Leitung der deutschen Sozialdemokratie im Ausland gestellt und für die Erfüllung dieser Aufgabe ihre Kräfte und Mittel eingesetzt. Der Druck des Terrors führt in Deutschland selbst zu weitgehender Dezentralisation der illegalen Arbeit. Die in Deutschland selbst unausweichliche Teilung der Arbeit kann nur in der Tätigkeit der Leitung ihre Zusammenfassung finden. Unterstützung und Förderung erhält jede Gruppe, deren revolutionärer Geist dafür bürgt, daß ihre Tätigkeit dem Sturz der nationalsozialistischen Diktatur im Rahmen der Einigkeit der Arbeiterklasse dient. Die Führung ist sich dabei bewußt, daß sie der ständigen Mitwirkung und Beratung der Leiter der illegalen Gruppen bedarf.

II. Die Ziele der Massenbewegung

Die Organisation ist das Werkzeug für den revolutionären Kampf. Welches sind seine Bedingungen, was ist sein Ziel?

Bedingungen und Ziele des Kampfes lassen sich nicht willkürlich bestimmen, sie erwachsen aus den sich zuspitzenden Gegensätzen der kapitalistischen Gesellschaft und aus den Tatsachen der nationalsozialistischen Gegenrevolution.

Wir fragen, wofür muß die Arbeiterklasse unter dem faschistischen System kämpfen, welche Kämpfe sind ihr aufgezwungen?

Der Nationalsozialismus leugnet in seiner Theorie die Klassenkämpfe, seine Praxis verschärft sie auf das Grausamste. Seine Herrschaft bedeutet eine unerhörte Steigerung der sozialen Gegensätze, ein neues Erhitzen des Kessels bei gewaltsamer Verschließung aller Ventile. Die Unterdrückung aller Organisationen der Arbeiter und Angestellten, ihre völlige Entmachtung, überliefert sie der Willkür des Großkapitals, in dessen Interessen die Diktatur die Staatsmacht gestellt hat. Diese einseitige Verschiebung der Machtverhältnisse bedroht die Arbeiterschaft mit fortschreitender Verschlechterung ihrer Lebenshaltung. Die Gefahr wird gesteigert durch eine Wirtschaftspolitik, die die Kosten aller Bedürfnisse der breiten Massen erhöht, die Beschäftigung in den Exportindustrien immer mehr drosselt; sie wird vermehrt durch eine Finanzpolitik, die die Massen belastet und immer größere Teile des ihnen abgepreßten Tributs einzelnen vom Regime begünstigten Schichten zuschanzt. Das zwingt die Massen zum Kampf für die Sicherung und Hebung ihrer materiellen Existenz. Aber jede Lohnbewegung ist verboten, jeder Streik wird zur politischen Rebellion!

Aus dieser Situation wird mit Notwendigkeit die Forderung nach Wiederherstellung der Koalitionsfreiheit und der Schaffung sozialer Kampforganisationen als Vertreter der Arbeiterinteressen erwachsen. Ihre Koalitionsfreiheit ist nicht möglich ohne ihre Versammlungs-, Vereins- und Pressefreiheit. Aus den unabweisbaren Bedürfnissen der Arbeiterschaft ergibt sich so die Forderung nach politischen Rechten, entspringt der Kampf um ihre demokratische Bewegungsfreiheit.

Im Heer der Arbeitslosen wächst mit der Dauer der Arbeitslosigkeit die Rebellion gegen eine Gesellschaft, die ihnen das Recht auf Arbeit versagt, verstärkt sich ihre Forderung nach Wiedereingliederung in den Produktionsprozeß, nach einer Ordnung der Wirtschaft, die Arbeitende und Arbeitslose nicht mehr auseinanderreißt, sondern die Arbeitsmöglichkeit gleichmäßig auf alle Arbeitsfähigen verteilt. Diese Bewegung der von der Diktatur betrogenen Arbeitslosen richtet sich unmittelbar gegen die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft.

Die Kämpfe um die Sicherung der Lebenshaltung der Arbeitenden und um die Wiedereingliederung der Arbeitslosen in den Produktionsprozeß mit allen Kräften zu fördern, die Front der kämpfenden Arbeiter zu verbreitern, den notwendigen inneren Zusammenhang dieser Kämpfe mit dem Ziel des Sturzes der Diktatur den Kämpfenden zum Bewußtsein zu bringen, ist eine der ersten Aufgaben der revolutionären Arbeit.

Die Wiedereroberung demokratischer Rechte wird zur Notwendigkeit, um die Arbeiterbewegung als Massenbewegung wieder möglich zu machen und den sozialistischen Befreiungskampf wieder als bewußte Bewegung der Massen selbst zu führen. Jedes demokratische Recht wird aber zur Bedrohung des Fortbestandes der Diktatur. Der Kampf um die Demokratie erweitert sich so zum Kampf um die völlige Niederringung der nationalsozialistischen Staatsmacht.

Dieser Kampf ist nur revolutionäres Durchgangsstadium zur Eroberung der ganzen Staatsmacht. Der Sturz der Despotie wird sich, wenn nicht äußere Katastrophen ihn herbeiführen, nur in der gewaltsamen Niederringung, nur durch den Sieg im revolutionären Kampfe vollziehen. Er wird sich ergeben, wenn die Bedingungen einer objektiv revolutionären Situation ausgenützt werden von einer entschlossenen, von radikalem Kampfgeist durchseelten, von einer erfahrenen Elite geführten Partei des revolutionären Sozialismus. Er kann nur erwachsen aus der Tat der Massen selbst.

III. Die Ausübung der Macht.

Diese Art der Eroberung der Macht bestimmt die Art ihrer Ausübung.

Im schweren, opferreichen, leidenschaftlichen Ringen um den Sturz der Diktatur erfüllt sich die Arbeiterbewegung mit radikalem, kompromißlosem Geist. Der politische Umschwung von 1918 vollzog sich am Abschluß einer konterrevolutionären Entwicklung, die durch den Krieg und die nationalistische Aufpeitschung der Volksmassen bedingt war. Nicht durch den organisierten, vorbereiteten, gewollten revolutionären Kampf der Arbeiterklasse, sondern durch die Niederlage auf den Schlachtfeldern wurde das kaiserliche Regime beseitigt. Die Sozialdemokratie als einzig intakt gebliebene organisierte Macht über nahm ohne Widerstand die Staatsführung, in die sie sich von vornherein mit den bürgerlichen Parteien, mit der alten Bürokratie, ja mit dem reorganisierten militärischen Apparat teilte. Daß sie den alten Staatsapparat fast unverändert übernahm, war der schwere historische Fehler, den die während des Krieges desorientierte deutsche Arbeiterbewegung beging.

Die neue Situation schließt jede Wiederholung aus. Die Niederwerfung des nationalsozialistischen Feindes durch die revolutionären Massen schafft eine starke revolutionäre Regierung, getragen von der revolutionären Massenpartei der Arbeiterschaft, die sie kontrolliert. Die erste und oberste Aufgabe dieser Regierung ist es, die Staatsmacht für die siegreiche Revolution zu sichern, die Wurzeln jeder Widerstandsmöglichkeit auszureißen, den Staatsapparat in ein Herrschaftsinstrument der Volksmassen zu verwandeln.

Der revolutionären Regierung obliegt deshalb die sofortige Durchführung einschneidender politischer und sozialer Maßnahmen zur dauernden völligen Entmachtung des besiegten Gegners. Das erfordert:

Einsetzung eines Revolutionstribunals.

Aburteilung der Staatsverbrecher, ihrer Mitschuldigen und Helfer in der Politik, der Bürokratie und Justiz wegen Verfassungsbruches, Mordes und Freiheitsberaubung unter Aberkennung der staatsbürgerlichen Rechte.

Aufhebung der Unverletzbarkeit der Richter.

Besetzung aller entscheidenden Stellen der Justiz durch Vertrauensmänner der revolutionären Regierung.

Grundlegende Umgestaltung der Justiz durch Verstärkung des Laienelementes.

Reinigung der Bürokratie, sofortige Umbesetzung aller leitenden Stellen.

Organisierung einer zuverlässigen Militär- und Polizeimacht.

Völlige Erneuerung des Offizierkorps.

Aufhebung aller die Freiheit der Arbeiterschaft beschränkenden Gesetze und Verordnungen der nationalsozialistischen Despotie.

Volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung ohne Unterschied der Rasse und Religion.

Trennung von Kirche und Staat.

Unterbindung jeder konterrevolutionären Agitation.

Sofortiger Erlaß der notwendigen sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Gesetze durch die revolutionäre Regierung.

Die Zerschlagung des alten politischen Apparates muß gesichert werden gegen seine bisherigen gesellschaftlichen Träger. Das erfordert:

Sofortige entschädigungslose Enteignung des Großgrundbesitzes, Ueberführung der Forsten in Reichseigentum und Reichsverwaltung, Verwendung des Ackerlandes zur Schaffung lebensfähiger Bauern-Siedlungen und genossenschaftlicher Betriebe von Landarbeitern mit ausreichender Förderung durch Staatsmittel.

Sofortige entschädigungslose Enteignung der Schwerindustrie.

Uebernahme der Reichsbank in den Besitz und die Verwaltung des Reiches.

Vergesellschaftung und Uebernahme der Großbanken durch die vom Reich bestimmten Leitungen.

Erst nach der Sicherung der revolutionären Macht und nach restloser Zerstörung der kapitalistisch-feudalen und politischen Machtpositionen der Gegenrevolution beginnt der Aufbau des freien Staatswesens mit der Einberufung einer Volksvertretung, gewählt nach allgemeinem, gleichem, direktem und geheimen Wahlrecht in Einzelwahlkreisen. Die erste Wahlkreiseinteilung erläßt die revolutionäre Regierung.

Die Volksvertretung wählt mit absolutem Mehr (falls notwendig unter Vornahme einer Stichwahl) den Chef der Reichsregierung, der die Reichsminister ernennt. Bis zum Zustandekommen der Wahl bleibt die Revolutionsregierung im Amt.

Das despotische System der zentralisierten Staatsmacht wird durch die Herstellung einer echten freiheitlichen Selbstverwaltung innerhalb des gegliederten Einheitsstaates gebrochen. In den politischen Gemeinden werden für das Schul-, Wohlfahrts-, Gerichts- und Steuerwesen Selbstverwaltungskörper gebildet, denen die Beamten verantwortlich sind.

IV. Revolution der Wirtschaft

Aufgabe der Arbeiterschaft im neuen Staat ist die Anwendung der errungenen Staatsmacht zur Durchführung der sozialistischen Organisation der Wirtschaft. Die Vergesellschaftung der Schwerindustrie, der Banken und des Großgrundbesitzes ist kein Endpunkt, sondern nur der Ausgangspunkt für die Umwandlung der kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaft.

Die sozialistische Wirtschaftsorganisation beseitigt die Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise. Sie überwindet damit die Wirtschaftskrisen und die Arbeitslosigkeit. An die Stelle der planlosen kapitalistischen Wirtschaft tritt die sozialistische Planwirtschaft. An die Stelle des kapitalistischen Profitstrebens tritt das Streben nach Deckung eines stets sich steigernden Bedarfes. An die Stelle der regellosen Rationalisierung zur Erhöhung des Profits durch Ersparung von Arbeitskräften, an die Stelle der regellosen Aufblähung des Produktionsapparates auf Kosten des Konsums tritt die planmäßige Steigerung der Produktionskräfte, die gleichmäßige Erweiterung von Erzeugung und Verbrauch. An die Stelle des zerstörenden Kampfes der einzelnen Produktionszweige gegeneinander tritt die auf einander abgestimmte Entwicklung.

Die Leitung der Umorganisation obliegt der obersten sozialistischen Planstelle. Diese dient der Lenkung der gesamten Wirtschaft. Sie hat insbesondere folgende Aufgaben:

Aufstellung eines Wirtschaftsplanes für die Entwicklung der Gesamtwirtschaft.

Schaffung einer Verwaltungsorganisation für die Verstaatlichung der Wirtschaftszweige unter Mitwirkung der Produzenten, Konsumenten und des Staates.

Vorbereitung weiterer Sozialisierung kapitalistisch beherrschter Wirtschaftszweige, Regulierung der Steigerung der Erzeugung und der Anwendung des technischen Fortschrittes durch Lenkung der Kapitalanlagen und der Betriebskredite.

Regelung der Beziehungen zwischen dem vergesellschafteten Teil der Wirtschaft und der Marktwirtschaft.

Für die Vergesellschaftung und einheitliche Leitung kommen zunächst folgende Wirtschaftszweige in Betracht:

Das Kreditwesen unter Aufrechterhaltung und Förderung der Selbstverwaltung der bäuerlichen und gewerblichen Genossenschaften.

Das Versicherungswesen.

Die Schwerindustrie.

Die chemische Großindustrie.

Der Güter- und Personenmassenverkehr.

Die Kraftversorgung (Gas und Elektrizität).

V. Die Revolution der Gesellschaft.

Die sozialistische Gesellschaft beseitigt das Ausbeutungseigentum des Kapitals, sie schützt das Arbeitereigentum des Bauern und des Handwerkers. Sie bedeutet ständige Steigerung der Lebenshaltung, deshalb erleichterte Absatzmöglichkeit für Produkte der bäuerlichen und handwerklichen Produktion. Sie befreit das Arbeitseigentum in Land und Stadt von dem Druck des agrarischen Großbesitzes und von der Uebermacht des Bankkapitals. Sie sorgt durch ihre Beherrschung des Kreditsystems für die ausreichende und billige Versorgung des Mittelstandes mit den nötigen Betriebskrediten. Sie dehnt die Alters-, Invaliden- und Krankenversorgung auf die ländlichen und städtischen Mittelschichten aus und erhöht so deren Existenzsicherheit. Die Agrarpolitik, befreit von dem übermächtigen Einfluß des Großgrundbesitzes, tritt für die Förderung und ausreichende Verwertung der Veredelungsprodukte der bäuerlichen Wirtschaft ein, sorgt durch staatliche Meliorationen für die Verbesserung ihres Grund und Bodens und durch Schaffung eines ausreichenden Bildungswesens für die ständige Hebung der Leistungsfähigkeit.

Die Neuordnung und Kontrolle der Produktion hebt die Bedeutung der Arbeit der technischen und leitenden Angestellten. Der Betrieb bedarf auch in der sozialistischen Wirtschaft einer gegliederten qualifizierten Leitung. Die Loslösung dieser Leitenden Organe aus der kapitalistischen Herrschaft, ihre Verwandlung in Funktionäre der Gemeinschaft gibt ihrer Arbeit neuen Inhalt und neue Würde.

Das Bildungsprivileg wird zerbrochen. In der Einheitsschule wird das heranwachsende Geschlecht nicht nur für den künftigen Beruf, sondern auch für die Erfüllung seiner Aufgaben in dem freien sozialistischen Gemeinwesen herangebildet. Der Aufstieg zu den höheren Lehranstalten erfolgt ausschließlich auf Grund der Eignung und Begabung ohne Rücksicht auf das Herkommen. Unterricht und Lehrmittel sind auf allen Stufen unentgeltlich.

Die sozialistische Gesellschaft stellt die Freiheit des Geistes und der Wissenschaft wieder her, sichert Kulturarbeit und Kunst vor den Eingriffen bürokratischer und kirchlicher Gewalten, gibt der Persönlichkeit ihr unveräußerliches Recht und ihre Menschenwürde wieder zurück.

Die sozialistische Neuordnung der Wirtschaft ist mehr als eine materielle Angelegenheit. Sie ist selbst Mittel zum Endziel der Verwirklichung wahrer Freiheit und Gleichheit, der Menschenwürde und voller Entfaltung der Persönlichkeit. Die Arbeit, bisher Quelle der persönlichen Bereicherung der einen und Ringen um die Fristung eines ärmlichen Lebens für die anderen, wird zum sozialen Dienst an der Mehrung des gesellschaftlichen Wohlstandes. Die Massen werden nicht mehr arbeiten, um den Monopolbesitzern der Produktionsmittel einen dürftigen Lebensraum und ein allzeit von Krisen bedrohtes Dasein abzuringen, sondern sie werden arbeiten für die Gestaltung der sozialistischen Zukunft. Die planmäßige Lenkung des technischen Fortschrittes wird die Produktivität der menschlichen Arbeit gewaltig steigern. Die Ausschaltung der Krisen wird den gesellschaftlichen Wohlstand ständig vermehren. Die dadurch ermöglichte Verkürzung der Arbeitszeit, vor allem aber die Befreiung des Menschengeschlechtes von den täglichen materiellen Sorgen der Lebensfristung und der Arbeitssuche ermöglicht allen Gliedern des sozialistischen Gemeinwesens die Anteilnahme an den Schätzen der Kultur, an den Erkenntnissen der Wissenschaft und an den Genüssen der Kunst. Ein neuer Gemeinsinn, eine neue Lebensauffassung, ein neuer Wetteifer um die Entfaltung aller Fähigkeiten erwächst: Die sozialistische Gesinnung, in der die neue Gesellschaft unzerstörbar verankert sein wird.

Je mehr sich der gesellschaftliche Umbau seiner Vollendung nähert, je mehr der Obrigkeitsstaat durch die Selbstverwaltung ersetzt wird, umso mehr wird der jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft überwunden. An die Stelle des Machtstaate, der durch Militär, Bürokratie und Justiz seine Untertanen beherrscht, tritt die Selbstverwaltung der Gesellschaft, in der jeder zur Mitwirkung an den allgemeinen Aufgaben berufen ist. An die Stelle des Führerprinzips und der Parteihierarchie, die Willkür und Verantwortungslosigkeit bedeuten, tritt die Verantwortung freier Menschen für die Erfüllung der gesellschaftlichen Aufgaben. Die Despotie wird abgelöst durch die freie Selbstbestimmung des Volkes, die Unterdrückung weicht der Gleichheit der gesellschaftlichen Rechte und Pflichten für alle Volksgenossen. Die Menschheit ist aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit getreten.

VI. Abrüstung und Kriegsgefahr.

Die nationalsozialistische Diktatur hat Deutschland in Barbarei und Bestialität gestoßen, das deutsche Volk mit tiefer Schmach bedeckt. Aber die Hitlerherrschaft ist nicht nur Schande und Gefahr für Deutschland, sie bedeutet die Gewaltdrohung gegen die Freiheit und Zivilisation aller anderen Völker. Die Diktatur hat in Rassenwahn und Großmachtsucht den alldeutschen Nationalismus zur Siedehitze gesteigert. Sie vergiftet die Jugend mit militaristischem Angriffsgeist, sie setzt alle geistigen und materiellen Mittel ein für eine fieberhafte Aufrüstung. Sie propagiert offen ihre Kriegsziele: eine neue Großmachtpolitik soll Neuland für die Siedlung im Osten schaffen, soll alle “deutschstämmigen” Gebiete dem faschistischen Reich einverleiben. Aber Schlimmeres noch als territoriale Einbuße droht den Völkern von der siegreichen Diktatur: am faschistischen deutschen Wesen soll die Welt genesen. Bedeutet eine neuer Krieg mit den unendlich vervollkommneten Zerstörungsmitteln eine Untergangsdrohung für die Zivilisation, so bedeutet ein Sieg der faschistischen Diktaturen eine Verewigung der Sklaverei und Bestialität im Inneren und ihre Ausbreitung über die übrige Welt.

Die deutsche Demokratie hat die Forderung der Gleichberechtigung erhoben im Bunde mit den großen Demokratien des Westens als ein Mittel zur Organisation und Sicherung des Friedens. Die Diktatur hat diese Forderung verfälscht, um sie für ihre kriegerischen Absichten zu mißbrauchen. Sie erhebt sie, um als starker Bundesgenosse neue Koalitionen zur Erreichung ihrer machtpolitischen Ziele bilden zu können. Die auswärtige Politik der deutschen Diktatur bedeutet ständige Bedrohung des Friedens und damit den Zwang zum Wettrüsten. Die Diktatur, die durch schamlosen Verfassungsbruch, durch Inszenierung des Reichstagsbrandes zur Macht gelangt ist, die durch frevelhaften Terror und schamlose Vergewaltigung von Recht und Gesetz die Macht behauptet, bietet erst recht keine Gewähr für die Innehaltung internationaler Verträge. Sie wird sie brechen, sobald sie den Bruch für nützlich hält.

Es ist nicht Aufgabe der Sozialdemokratie, auf den Sturz der Despotie durch den Krieg zu hoffen. Es ist vielmehr ihre Aufgabe, den Krieg zu verhindern. Deshalb verwirft sie alle militärischen Konzessionen an Hitlerdeutschland. Sie warnt die Arbeiterparteien aller Länder, die Gefahr des deutschen Nationalismus zu unterschätzen. Gleichberechtigung der Demokratien, aber keinerlei Aufrüstung für eine kriegslüsterne Diktatur! Diesem System keinen Mann und keinen Groschen, das ist die Parole der deutschen Sozialdemokratie, das muß die Losung der Sozialistischen Arbeiter-Internationale sein. Nicht militärische Zugeständnisse erfordert die Sicherung des Friedens und der Freiheit der Nationen, sondern Wiederabrüstung, Entwaffnung und Auflösung der SA- und SS-Formationen.

Sollte der Krieg, den Festigkeit und wachsame Entschlossenheit der Demokratien unter dem Einfluß ihrer Arbeiterparteien heute noch verhindern können, trotzdem ausbrechen, so werden die deutschen Sozialdemokraten der Despotie in unveränderter, unversöhnlicher Feindschaft gegenüberstehen. Die Einheit und Freiheit der deutschen Nation kann nur gerettet werden durch die Ueberwindung des deutschen Faschismus.

Die Sozialdemokratie wird sich mit Entschiedenheit gegen jeden Versuch von außen wenden, einen kriegerischen Zusammenbruch der Despotie in Deutschland zu einer Zerstückelung Deutschlands auszunutzen. Sie wird keinen Frieden anerkennen, der zur Zerreißung Deutschlands führt und eine Hemmung seiner freiheitlichen und wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten bedeutet.

VII. Die Einheit des revolutionären Sozialismus.

Mit dem Sieg des totalen Staates ist die Frage seiner Überwindung mit grausamer Eindeutigkeit gestellt. Die Antwort lautet: Totale Revolution, moralische, geistige, politische und soziale Revolution!

In diesem Kampfe wird die Sozialdemokratische Partei eine Front aller antifaschistischen Schichten anstreben. Sie wird die Bauern, die Kleingewerbetreibenden, die Kaufleute, die durch die Versprechungen der Nationalsozialisten betrogen sind, sie wird die Intellektuellen, die unter dem gegenwärtigen Regime ein bisher unvorstellbares Maß der Unterdrückung und Entwürdigung erleiden, zum gemeinsamen Kampf mit der Arbeiterklasse aufrufen.

Wir haben den Weg, wir haben das Ziel des Kampfes gezeigt. Die Differenzen in der Arbeiterbewegung werden vom Gegner selbst ausgelöscht. Die Gründe der Spaltung werden nichtig. Der Kampf zum Sturz der Diktatur kann nicht anders als revolutionär geführt werden. Ob Sozialdemokrat, ob Kommunist, ob Anhänger der zahlreichen Splittergruppen, der Feind der Diktatur wird im Kampf durch die Bedingungen des Kampfes selbst der gleiche sozialistische Revolutionär. Die Einigung der Arbeiterklasse wird zum Zwang, den die Geschichte selbst auferlegt.

Die Führung der deutschen Sozialdemokratie weiß sich deshalb frei von jeder sektenhaften Abschließung und ist sich ihrer Mission bewußt, die Arbeiterklasse in einer politischen Partei des revolutionären Sozialismus zu vereinigen. Wie sie die illegale Arbeit aller Gruppen, die den Kampf gegen die Diktatur und nicht gegen andere Parteien der Arbeiterklasse führen, zu unterstützen bereit ist, so öffnet sie ihre Zeitungen, Zeitschriften und Publikationen allen Diskussionen über die Probleme des revolutionären Sozialismus, der Machteroberung und Machtbehauptung in der Überzeugung, daß nur aus gemeinsamer geistiger Arbeit die Verwirklichung des einheitlichen revolutionären sozialistischen Bewußtseins der Arbeiterklasse erstehen kann. Aber sie lehnt es ab, die Selbstzerfleischung zuzulassen, die um der Frage der Ausnutzung noch nicht errungener Siege willen die Spaltung der Arbeiterklasse, den sichersten Schutz der Diktatur, verewigen will.

Die nationalsozialistischen Machthaber rühmen sich, die revolutionäre sozialistische Arbeiterbewegung vernichtet, den Freiheitsgedanken ausgerottet zu haben. Sie sind die Sieger und üben an den Unterdrückten grausame Rache. Aber je größer ihr Sieg, der Sieg der kapitalistischen Mächte, desto schwerer wird ihre künftige Niederlage sein. Die kapitalistische Entwicklung schafft selbst ihre Totengräber und der Triumph von heute ist der Untergang von morgen.

Gegen die faschistische Barbarei führen wir den Kampf für die großen und unvergänglichen Ideen der Menschheit. Wir sind die Träger der großen geschichtlichen Entwicklung seit der Ueberwindung der mittelalterlichen Gebundenheit, wir sind die Erben der unvergänglichen Ueberlieferungen der Renaissance und des Humanismus, der englischen und der französischen Revolution. Wir wollen nicht leben ohne Freiheit und wir werden sie erobern. Freiheit ohne Klassenherrschaft, Freiheit bis zur völligen Aufhebung aller Ausbeutung und aller Herrschaft von Menschen über Menschen!

Das Blut der Opfer wird nicht vergebens geflossen sein!

Deutsche Arbeiter, ihr habt nur die Ketten eurer Knechtschaft zu verlieren aber die Welt der Freiheit und des Sozialismus zu gewinnen!

Deutsche Arbeiter, einigt euch im revolutionären Kampf zur Vernichtung der nationalsozialistischen Diktatur!

Durch Freiheit zum Sozialismus, durch Sozialismus zur Freiheit!

Es lebe die deutsche revolutionäre Sozialdemokratie, es lebe die Internationale!

Prag, 28. Januar [1934]

Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

 

 

 

 

 



[1]. Cf. auch:

http://library.fes.de/pdf-files/netzquelle/01271.pdf

http://www.harte--zeiten.de/dokument_396.html